Bornholmer Straße. Die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Oberstleutnant Harald Schäfer – Kritik zum Film bei Tittelbach.tv (2024)

RBB, 09.11.2024, 22:05 Uhr - Wiederholung

Charly Hübner, Peschel, Matthes, Beyer, Schwochow. „Die Grenze ist mein Leben.“

Thomas Gehringer
Der Fall der Mauer als historische Groteske: „Bornholmer Straße“ erzählt von dem Oberstleutnant, der am 9. November 1989 letztlich auf eigene Faust die Grenze öffnete. Ein Helden-Stück zum Jahrestag aus ungewöhnlicher Perspektive, komisch und leicht statt pathetisch und schwer. DDR-Grenzer einmal anders, als tragische Figuren in einer Polit-Farce. Herrlich absurde Dialoge, eine packende Inszenierung und ein großartiges Ensemble neben dem wunderbar lakonischen Charly Hübner in der Hauptrolle. Christian Schwochow („Der Turm“) hat das Drehbuch seiner Eltern Heide und Rainer Schwochow inszeniert.

Bornholmer Straße. Die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Oberstleutnant Harald Schäfer – Kritik zum Film bei Tittelbach.tv (1)

Foto: MDR / Ufa Fiction / Konietzny

Ein Wort an die DDR-Bürger, die vor dem Schlagbaum auf die Ausreise warten. "Die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Oberstleutnant Harald Schäfer" (Hübner)

Oberstleutnant Harald Schäfer sitzt auf der Toilette und fühlt sich unwohl. Es zwickt in seinem Bauch, was auch dem Zuschauer durch entsprechende Geräusche mitgeteilt wird. Appetitlich beginnt „Bornholmer Straße“ nicht gerade, und die wundersame Auflösung des Schäferschen Bauchgrimmens später überzeugt auch nicht. Liegt Schäfer etwa die DDR quer im Magen? Jedenfalls ist er ein pflichtbewusster Genosse, der „seine Grenze“ wegen ein bisschen Unwohlseins nicht im Stich lässt. So ist Schäfer am 9. November 1989 angespannt, schon bevor Günter Schabowski auf der Pressekonferenz die folgenschweren Sätze zum Thema Ausreise formuliert. Schäfer, der an diesem Tag die Leitung an der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße in Berlin hat, reagiert entsprechend seines persönlichen Befindens: „Was redet denn der für einen geistigen Dünnschiss?“

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Foto: MDR / Ufa Fiction / Konietzny

"Unsere schöne Grenze" – unfassbar, was auf den Überwachungsmonitoren zu sehen ist. Max Hopp, Hermann Beyer, Charly Hübner, Milan Peschel, Robert Gallinowski und Rainer Bock in Christian Schwochows "Bornholmer Straße"

Für die erste Aufregung sorgt jedoch ein kleiner Hund, der aus dem Nirgendwo kommt und den Grenzern zwischen den Beinen herumwuselt. Eine ästhetisch schon ansprechendere Idee, um in die Absurdität dieser betonierten DDR-Welt mit ihren ebenso betonierten Regeln einzuführen. Die Kamera fängt eine große Leere ein, Menschen, die sich in der überdimensionierten Grenzanlage verlieren. Auch sonst herrscht zeitgenössisch treffende Tristesse: Das Honecker-Bild steht in der Ecke und hinterlässt einen hellen Fleck auf der scheußlichen Tapete, die Belegschaft balgt sich um zerbröselnde Othello-Kekse. Und Probleme haben die: Was tun mit einem „dingfest gemachten Grenzverletzer“, der bestenfalls bellt, aber nicht antwortet? Über den aber doch ein Bericht geschrieben werden muss, beginnend mit Name, Geburtsdatum, Wohnort? Wie sich da eine ganze Horde erwachsener Männer in Uniformen zum Affen macht, ist wirklich vielsagend komisch. Und der gut dressierte Hund hätte einen Darstellerpreis verdient, man fühlt sich an „The Artist“ erinnert.

„Bornholmer Straße“ erzählt den historischen Tag, an dem die Mauer fällt, aus der Sicht der DDR-Grenzbeamten. Gedreht (fast) an einem einzigen Schauplatz, beginnend als nicht immer lustige DDR-Groteske, die sich später in ein historisches, tragikomisches Drama wandelt. Mit herrlich absurden Dialogen in einer überzeugenden Regie, die auch den Massenandrang kraftvoll in Szene setzt. Doch dass die Grenzer zu gewaltsamen Mitteln greifen könnten, nimmt man diesen Typen nicht ab. Was für eine verschrobene Truppe, die da als letzter Vorposten der DDR die Trennung von West und Ost aufrechterhalten soll – und was für ein Ensemble: Da sind der gleichmütige Lageoffizier, der die Welt nur durch seine Monitore sieht (Hermann Beyer). Der linientreue Außenseiter (Milan Peschel), dessen Dienstbeflissenheit jedem auf den Wecker geht. Der schießwütige Sicherheitsoffizier. Der erfahrene, ruhige Major (Rainer Bock). Der junge Oberfeldwebel (Ludwig Trepte), dessen Freundin (Jasna Fritzi Bauer) mit der anschwellenden Menge am Schlagbaum erscheint. Der Zoll-Beamte (Robert Gallinowski), der Ein- und Ausreisende gerne schikaniert, aber noch an „Muttis“ (Margit Bendokat) Schürze hängt. Die schmiert dem verlorenen Haufen in der Kantine die Butterbrote.

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Foto: MDR / Ufa Fiction / Konietzny

Wegducken & darauf warten, dass der Befehl kommt. Trepte, Hübner, Schneider

Und als langsam bröckelnder Fels in der Brandung: Charly Hübner als Oberstleutnant Schäfer. In Hübners lakonischer Mimik spiegeln sich die Kämpfe eines treuen Genossen, dem langsam dämmert, dass sein Lebenswerk gerade zusammenbricht. Der verzweifelt auf Befehle wartet, die nicht mehr kommen, und der am Ende einsieht, dass er in Eigenregie handeln muss. Weniger überzeugend die Figur des Oberst Hartmut Kummer (Ulrich Matthes), der sich in seinem Büro besäuft und aus Wut auf das Egon-Krenz-Porträt schießt. Doch Schäfer, diese sympathische und tragikomische Figur sorgt für die richtige Fallhöhe in der Polit-Farce. Schäfer ist nicht irgendein Befehlsempfänger, der überall seinen Dienst verrichten könnte. „Die Grenze ist mein Leben.“ Man glaubt es ihm. Und seinen Kollegen. Wenn Milan Peschel als Oberleutnant Rotermund am Ende seufzt: „Mensch, Harald, das ist doch unsere schöne Grenze“, trauert man fast ein bisschen mit, als die Massen jubelnd in den Westen drängen.

„Bornholmer Straße“ ist eine Familienangelegenheit: Christian Schwochow („Der Turm“) hat das Drehbuch seiner Eltern Heide und Rainer Schwochow inszeniert. Beide gingen in dieser Nacht selbst über den Grenzübergang nach West-Berlin – für ein paar Stunden, denn ihr elfjähriger Sohn Christian verschlief den Mauerfall in der Wohnung an der Schönhauser Allee. Die Schwochows setzen mit dem Film Harald Jäger ein Denkmal, dem realen Oberstleutnant, der am 9. November schließlich die Menschen ohne Kontrollen über die Grenze ließ. Als Vorlage diente Gerhard Haase-Hindenbergs Buch „Der Mann, der die Mauer öffnete“. Unter all den historischen Nico-Hofmann-Heldenstücken ist „Bornholmer Straße“ alles in allem eine wohltuende Ausnahme: überzeichnet und leicht statt pathetisch und schwer.

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Foto: MDR / Ufa Fiction / Konietzny

Melitta (Bauer) appelliert an ihren Grenzer-Freund, den Schlagbaum zu öffnen.

Thomas Gehringer, freiberuflicher Journalist aus Köln, schreibt für epd medien, den "Tagesspiegel" und andere regionale Tageszeitungen, ehemaliges Mitglied in Jurys und Nominierungskommissionen des Grimme-Preises.

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Bornholmer Straße. Die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Oberstleutnant Harald Schäfer
MDR, Degeto, RBB / Fernsehfilm / Komödie
EA: 5.11.2014, 20.15 Uhr (ARD)
Mit Charly Hübner, Milan Peschel, Ulrich Matthes, Hermann Beyer, Ludwig Trepte, Rainer Bock, Robert Gallinowski, Jasna Fritzi Bauer, Margit Bendokat, Max Hopp, Frederick Lau, Thorsten Merten
Drehbuch: Heide Schwochow, Rainer Schwochow
Regie: Christian Schwochow
Kamera: Frank Lamm
Szenenbild: Lars Lange
Kostümbild: Kristen Schuster
Schnitt: Jens Klüber
Musik: Daniel Sus
Produktionsfirma: Ufa Fiction
Quote: 6,99 Mio. Zuschauer (21,5% MA)


Bewertung: 5,5 von 6


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